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Der Karneval von Evolène: Eine Erfahrung außerhalb der Zeit

Februar 14, 2025

Die Kälte ist schneidend, beißend, in der Luft schwebt eine eigentümliche Aufregung. In der Ferne hallt ein dumpfer Klang durch das Tal, wie ein tiefer, uralter Herzschlag. Es sind nicht bloß Glocken, die da läuten, die «Sonnettes», sondern ein Ruf, ein Signal, dass sich etwas anbahnt.

In Evolène scheint sich jeden Winter die gewöhnliche Welt aufzulösen, um einem unveränderlichen Ritual Platz zu machen. Hier ist der Karneval nicht nur ein Fest: Er ist eine Metamorphose, ein Eintauchen in eine andere Zeit, wo die Grenze zwischen dem Unsichtbaren und dem Greifbaren verschwimmt.

Die Ursprünge des Karnevals von Evolène verlieren sich im Nebel der Vergangenheit. Lange bevor Skigebiete die Massen anzogen und der Tourismus die Berge eroberte, kämpften die in ihrem Tal isolierten Bewohner mit ihren eigenen Waffen gegen den Winter: mit Riten, Masken, Glocken und einem tiefen Bedürfnis, dem zu begegnen, was nicht benannt werden kann.

Einst dienten diese Zeremonien dazu, böse Geister zu vertreiben, die Gefahren einer ebenso schönen wie unbarmherzigen Natur zu bannen und den Frühling willkommen zu heißen. Mit der Zeit verwandelten sie sich in ein Volksfest, doch ihre Essenz blieb unversehrt.

Ab dem 6. Januar kippt etwas. Das Dorf verfällt dem Karneval, wie man in Trance verfällt. Was einst ein friedlicher Ort war, legt ein anderes Antlitz an.

In den Gassen huschen beunruhigende Schatten: die Peluches, emblematische Gestalten des Karnevals. In Tierfelle gehüllt, tragen sie seltsame geschnitzte Holzmasken, die «Visagères», mit erstarrten, fast beängstigenden Ausdrücken. Sie schreiten schweren Schrittes voran, ihre «Sonnettes» hallen durch die gedämpfte Stille des Schnees. Unmöglich zu wissen, wer sich unter diesen Kostümen verbirgt. Es ist dieses Geheimnis, das die Zuschauer erschauern lässt.

In einer Ecke vergnügt sich eine Gruppe von Maries damit, die Passanten anzusprechen. Diese als Frauen verkleideten Männer tragen traditionelle Kleider und ein schelmisches Lächeln. Sie schlendern umher, rufen, bringen zum Lachen und überraschen, erinnern daran, dass der Karneval auch ein Moment des Spotts ist, ein Raum, in dem soziale Konventionen verschwinden.

Dann kommen die Empaillés. Massig, imposant, mit Stroh bedeckt, bis sie kaum noch Menschen ähneln, bewegen sie sich langsam durch die Straße, fegen den Schnee mit weiten, fast zeremoniellen Gesten. Sie verkörpern etwas Archaisches, Ursprüngliches. Ihre Mission scheint klar: das Dorf aufzuwecken, die etablierte Ordnung aufzurütteln, daran zu erinnern, dass der Karneval da ist, um Rollen umzukehren, Orientierungspunkte zu verwischen.

Den Karneval von Evolène zu erleben, heißt nicht nur, einem Schauspiel beizuwohnen. Es bedeutet, von einer Atmosphäre ergriffen zu werden, den Schnee unter den Schritten knirschen zu hören, den Atem des Windes vermischt mit dem Läuten der Glocken zu vernehmen, den Geruch des nahebei knisternden Holzfeuers wahrzunehmen.

Es bedeutet, das Licht der Fackeln auf maskierten Gesichtern tanzen zu sehen und sich für einen Moment zu fragen, ob man noch im 21. Jahrhundert weilt oder in eine vergangene Epoche eingetaucht ist.

Der Faschingsdienstag markiert den Höhepunkt des Rituals. Die Poutratze, eine Strohpuppe, wird auf den Platz gebracht. Früher glaubte man, dass das Verbrennen dieses symbolischen Wesens den Winter vertreibe und den Frühling herbeirufe. Heute hat die Geste ihren magischen Charakter verloren, doch die Intensität des Moments bleibt ungebrochen. Das Feuer erhebt sich in die schwarze Nacht, die Gesichter leuchten auf, und in der ehrfürchtigen Stille der Versammlung spürt jeder tief in sich, dass etwas Unerklärbares geschieht.

Der Karneval von Evolène ist keine bloß lokale Angelegenheit. Er fasziniert, zieht an und fesselt weit über das Tal hinaus. Jedes Jahr kommen Besucher aus der Schweiz, aus Europa, manchmal von noch weiter her, um zu verstehen, was dieses Ereignis so einzigartig macht.

Kylian Maître, Präsident des Karnevalskomitees, weiß das gut: «Der Karneval ist nicht nur eine Tradition, die wir zum Vergnügen aufrechterhalten. Es ist eine Art, uns wieder mit dem zu verbinden, was wir sind. Jedes Jahr engagieren sich junge Menschen aus dem Dorf, um dieses Fest am Leben zu erhalten. Ohne sie würde es verschwinden. Aber hier sterben Traditionen nicht: sie entwickeln sich weiter.»

Als Beweis für dieses wachsende Interesse wurde der Karneval von Evolène 2011 in Limoux in Frankreich neben anderen Karnevals der Welt präsentiert. Ein Austausch, der zeigte, dass trotz kultureller Unterschiede dieses Bedürfnis, sich zu verkleiden, sich neu zu erfinden, dem Winter zu trotzen, universell ist.

Diejenigen, die zum ersten Mal dem Karneval von Evolène beiwohnen, kehren selten unberührt zurück. Etwas verändert sich in ihnen.

Vielleicht ist es die Begegnung mit diesen erstarrten und doch seltsam ausdrucksstarken Masken? Vielleicht ist es die gedämpfte Atmosphäre des Dorfes, wo Stille und Tumult nebeneinander existieren? Vielleicht ist es dieser Moment kurz nach dem Scheiterhaufen, wenn alle dort verharren, den Gluten zugewandt, als hätte das Feuer weit mehr als nur Stroh verbrannt?

Die am Karneval von Evolène teilnehmen, wohnen ihm nicht bei: sie verkörpern ihn.

Doch es bleibt etwas Unerklärbares in diesem Moment, das nur für jene existiert, die es erleben.

 

Bildnachweise:
Karine Chevrier 2024
Sandrine-Marie Thurre 111 ans des Maries 2024